Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 119-122

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Eduard Mühle (Hg.): Rechtsstadtgründungen im mittelalterlichen Polen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. VII, 395 S., Abb., Kte. = Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen, 81. ISBN: 978-3-412-20693-2.

Der im Umfeld des Deutschen Historischen Instituts in Warschau entstandene Sammelband macht dem deutschsprachigen Fachpublikum Resultate der polnischen mediävistischen Stadtgeschichtsforschung zugänglich. Die insgesamt siebzehn aus dem Polnischen übersetzten Aufsätze stammen hauptsächlich aus dem vergangenen Jahrzehnt, einige aus den 1990er Jahren. Sie widerspiegeln die Ergebnisse der jüngsten polnischen Forschung zur gezielten Politik des städtischen Landesausbaus der piastischen Fürsten und Könige im 13. und 14. Jahrhundert. Überdies illustrieren sie, dass die Forschung auf polnischer Seite längst über die wenig fruchtbare, stark nationalistisch geprägte Kontroverse hinausgewachsen ist, ob die (deutschrechtliche) Urbanisierung Polens ein Ergebnis autochthoner Entwicklungen oder „deutschen, zivilisatorischen“ Imports gewesen sei. Der Herausgeber Eduard Mühle skizziert in seiner Einleitung zusammenfassend die wichtigsten Linien der piastischen Lokations- und Stadtpolitik. Die Überlegungen, die ihn bei der Auswahl der Aufsätze geleitet haben, bleiben etwas unklar, zumal es sich bei einigen Beiträgen zwar um durchaus illustrative, aber doch recht spezielle Detailstudien handelt.

In einem umfangreichen Aufsatz von über 50 Seiten ordnet Sławomir Gawlas den fürstlichen Landesausbau mittels deutschrechtlicher Kolonisation und städtischer Lokationen in einen weiteren Zusammenhang ein. Vor dem Hintergrund steigender Konsumbedürfnisse der sozialen Eliten an der europäischen Peripherie dienten sie dem Ausbau der territorialen Herrschaft und deren fiskalischer Durchdringung. Dies geschah über eine intensivierte Münzwirtschaft, die wirtschaftliche Vernetzung des Dorfes mit städtischen Märkten und die Kontrolle des internationalen Fernhandels über städtische Zentren. Ein weiterer Aufsatz von Gawlas beschäftigt sich mit der Lokationswende in Ostmitteleuropa während des 13. Jahrhunderts. Er referiert dabei den Forschungsstand, insbesondere unter Einbezug der deutschen und böhmischen Gebiete. Als charakteristisch für die polnischen Verhältnisse unterstreicht er die Bedeutung der Landesherren bei den Lokationen, die sich in der Regel über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinzogen. Diese zeigte sich etwa darin, dass das bestehende Grundeigentum häufig enteignet oder die Siedlung schlicht auf neuen Grund transloziert wurde. Weiter diente die schachbrettartige Anlage der Städte rund um einen zentralen Marktplatz, die typisch für viele polnischen Städte wurde, den fiskalischen Interessen des Stadtherrn, indem sie ihm eine bessere Kontrolle des Handels ermöglichte. Am Beispiel von Breslau, Krakau und Posen beleuchtet Marek Słoń, wie deren Lokation im 13. Jahrhundert zeitlich eng verschränkt mit kirchlichen Gründungen ablief. Diese wurden im Hinblick auf die Lokation sogar manchmal vorgezogen und waren in den Rahmen des Gründungsprozesses eingeplant. Pfarrkirchen dienten hierbei als Kristallisationspunkte für die junge Stadtgemeinde; vom Herrscher berufene Predigerkonvente verliehen der städtischen Gründung sakralen Glanz; und schließlich durften auch Spitäler und Armenhäuser bereits in der Zeit der Lokation nicht fehlen.

Eine Reihe von Beiträgen beschäftigt sich mit der Frühzeit von Breslau. Die Aufsätze von Jerzy Rozpędowski und Jerzy Piekalski untersuchen die so genannte erste Lokation der Stadt. Deutlich machen sie dabei, dass der Prozess der Lokation einer Stadt nicht ein einmaliger Akt ex nihilo, sondern ein Prozess war, der zwar Jahrzehnte dauerte, zugleich aber auch von markanten Meilensteinen geprägt war. Insbesondere archäologische Grabungen erweisen sich als sehr hilfreich, da sie das meist nur spärlich vorhandene schriftliche Quellenmaterial erhellen, ja sogar zu neuen Interpretationen Anstoß geben können. Das Beispiel Breslaus illustriert überdies, dass bereits Jahrzehnte vor der eigentlichen rechtlichen Lokation einer Bürgergemeinde und der Anlage eines regelmäßigen Stadtgrundrisses eine komplexe arbeitsteilige Siedlung existierte, in der es eine jüdische und eine westlich-wallonische Kolonie gab, deren materielle Kultur sich von derjenigen der ortsansässigen Bevölkerung unterschied. Mateusz Goliński widmet sich der räumlichen Entwicklung Breslaus im Anschluss an die erste Lokationsphase. Breslau steht zusammen mit zwei weiteren Städten auch im Zentrum des Aufsatzes von Stanisław Rosik, der sich den herrschaftlichen und wirtschaftlichen Motiven bei der Gründung von Neustädten in Schlesien und deren späterer Entwicklung im Zusammenspiel mit den Altstädten widmet. In Schlesien bleiben wir auch mit dem Beitrag zu Liegnitz (Mateusz Goliński / Rościsław Żerelik). Dieser setzt sich detailliert mit der Frage der rechtlichen und räumlichen Lokation der Stadt auseinander, seziert die verschiedenen Interpretationen rund um das Phänomen der Lokation von Liegnitz anhand urkundlicher und archäologischer Puzzlestücke und illustriert dabei ein Stück Forschungsgeschichte. In Schlesien waren städtische Lokationen, die auf die Initiative des Adels zurückgingen, anders als in Teilen Polens äußerst selten. Tomasz Jurek untersucht die Lokationspolitik einer der bedeutendsten schlesischen Adelsfamilien und kann dabei nachweisen, dass diese Stadtgründungen regelmäßig zu Konflikten mit den machtbewussten Herzögen führten, die diese Städte in der Folge an sich rissen.

Mit den Beispielen der Lokationen von Posen und Krakau verlässt der Sammelband Schlesien und dehnt seinen Horizont nach Groß- und Kleinpolen aus. Tomasz Jurek zeichnet die von den 1240er bis letztlich in die 1280er Jahre – als sich die Stadt etabliert hatte – dauernde Gründung von Posen nach. Die Lokation um das Jahr 1250 erweist sich als ein komplexes und aufwändiges Unterfangen, das bis zu seinem Erfolg der Anstrengungen zweier Fürstengenerationen bedurfte. Sie erforderte einmal die politische Zustimmung der Kirche und des Adels zu Grundstücksübertragungen auf dem Territorium der neu zu gründenden Stadt, welcher sich der Fürst auf Adelsversammlungen versichern musste. Die Lokation gelang überdies nur, indem man Bewohner umliegender Siedlungen in die neu vermessene civitas transferierte, weil zuziehende Kolonisten fehlten. Ein grundlegender Beitrag zum Vorgang der städtischen Lokation in Kleinpolen ist mit dem Aufsatz von Jerzy Wyrozumski vertreten. Er verfolgt am Beispiel Krakaus, welch vielstufiger Prozess eine Lokation war: „Die Gründung von Stadtgemeinden war im östlichen Mitteleuropa gerade mit der Umgestaltung von Ansiedlungen verbunden, denen ein regelmäßiger Grundriss verliehen wurde, während die bisherigen Ansiedler umziehen mussten und manchmal auch neue von außerhalb herbeigerufen wurden, bis der Siedlung dann schließlich in größerem oder geringerem Umfang das Recht zur Selbstverwaltung verliehen wurde. Das alles bedeutete ‚Lokation‘ und ‚ansiedeln‘.“ (S. 246247) Kennzeichnend für diesen Prozess war, dass ethnisch deutsche Siedlergruppen, die sich auf der Basis eines herzoglichen Privilegs gemäß deutschem Recht als eine personenrechtliche Inklave organisierten, lange in der Stadt präsent waren, bevor das deutsche Recht im Lokationsakt von 1257 auf das erweiterte Stadtgebiet ausgedehnt und ein regelmäßiger Stadtgrundriss trassiert wurde. In einem reich mit Planmaterial illustrierten Beitrag beschäftigt sich Bogusław Krasnowolski mit der regelmäßigen urbanistischen Anlage kleinpolnischer Städte, deren Höhepunkt die vielgliedrigen Schachbrettanlagen etwa Krakaus bildeten. Regelmäßige, konstruierte urbanistische Grundrisse sind ein Kennzeichen Ostmitteleuropas und Ausdruck geplanten herrscherlichen Städtebaus, der sich im Falle Kleinpolens von schlesischen und böhmischen Vorbildern beeinflussen ließ und selbst in den ruthenischen Raum ausstrahlte. Diese Urbanistik war nach Meinung Krasnowolskis in ihrem Anspruch, die Ordnung des Kosmos abzubilden, den ideologischen Grundlagen der Architektur gotischer Sakralbauten durchaus nicht unähnlich.

Die letzten Beiträge des Sammelbandes lösen sich vom Fokus auf Schlesien, Klein- und Großpolen. Roman Czaja ordnet in seinem grundlegenden Aufsatz die Entwicklung des spätmittelalterlichen polnischen Städtewesens (13./14. Jahrhundert) in den größeren europäischen Rahmen der urbanen Revolution ein und differenziert die polnischen Entwicklungen chronologisch und regional, wodurch ein Gesamtbild des Phänomens entsteht. Dies hätte es vielleicht angezeigt erscheinen lassen, den Beitrag an den Anfang des Bandes zu stellen. Zwei Aufsätze von Andrzej Janeczek dehnen den Fokus des Sammelbandes entlang der deutschrechtlichen Kolonisationsrichtung, die von Schlesien über Kleinpolen nach Ruthenien verlief, in den orthodoxen Kulturraum aus. Für Przemyśl macht er ähnliche Beobachtungen wie Wyrozumski für Krakau, nämlich die Existenz einer deutschrechtlichen Personengruppe in der Stadt unter der Führung eines Vogtes bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts – also noch zur Zeit des rusischen Fürstentums von Halyč-Wolhynien, vor einer eigentlichen territorialen und rechtlichen Lokation der Stadt nach deutschem Recht im 14. Jahrhundert. Sein klassischer Beitrag zur „Modernisierung der Städte Rutheniens“ beleuchtet, wie das deutschrechtliche Städtemodell vom 14. bis 16. Jahrhundert in die ruthenischen Teile des Königreichs Polen im Südosten übertragen wurden. Sein Augenmerk richtet er dabei auf die besondere, konfliktreiche Situation des Ein- beziehungsweise Ausschlusses nicht-katholischer Bevölkerungsteile in die Stadtgemeinde, wie sie sich in den multikonfessionellen Burgstädten Rutheniens bot. Den Band beschließt ein Aufsatz von Henryk Samsono­wicz, der sich mit der tatsächlichen Autonomie und Selbstverwaltung der polnischen Städte in einem vom Adel geprägten Umfeld auseinandersetzt, mit Ausblicken bis ins 17. Jahrhundert.

Christophe v. Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Mühle, Eduard (Hg.): Rechtsstadtgründungen im mittelalterlichen Polen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. VII, 395 S., Abb., Kte. = Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen, 81. ISBN: 978-3-412-20693-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Werdt_ Muehle_Rechtsstadtgruendungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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